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Platon wohnt hier nicht mehr

19. Februar 2019

Im Zuge der Bologna-Reformen findet die Lektüre von Klassikern an den Universitäten immer weniger Platz. Wo bleibt die Politische Theorie in politisierten Zeiten? Autor: Oliver Weber - faz.net

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Populismus, Klimawandel, Bürgerkrieg – sobald sich die Krisen häufen, trägt die Öffentlichkeit dringliche Fragen an die Politikwissenschaft heran. Sie soll ergiebige Antworten liefern, einen ungetrübten Blick auf den Gesamtzusammenhang des politischen Geschehens richten und einen begrifflichen Rahmen bereitstellen, mit dessen Hilfe die Probleme der Gegenwart gelöst werden können. Eine große Aufgabe für ein verhältnismäßig kleines Fach. Besonders, wenn dessen Teilbereich, der sich mit grundsätzlichen theoretischen Fragen auseinandersetzt, in der universitären Lehre seit Jahren Einbußen hinnehmen muss.

Die Politische Theorie, Politische Philosophie oder Ideengeschichte, wie der Teilbereich mancherorts genannt wird, ist eigentlich eine Besonderheit im Kanon der Politikwissenschaft. Die benachbarten Fachrichtungen, von den Internationalen Beziehungen, über die Vergleichende Regierungslehre bis zur Politischen Soziologie, teilen ein eher sozialwissenschaftliches Selbstverständnis. Sie beschäftigen sich auf der Grundlage von Umfragen, Fallstudien oder Interviews etwa mit der internationalen Zusammenarbeit der Staaten, mit den Institutionen liberaler Demokratien oder dem Wahlverhalten einfacher Bürger. Die Politische Theorie hingegen schließt eher an eine geisteswissenschaftliche oder philosophische Tradition an, um weitreichendere Fragen zu beantworten. Politische Theoretiker untersuchen beispielsweise die ideengeschichtliche Herkunft des modernen Sozialstaatsverständnisses oder reflektieren die Bedingungen demokratischer Willensbildung im Zeitalter der Globalisierung.

Fachhistorisch gesehen ist die Politische Theorie die älteste Ausprägung politikwissenschaftlichen Denkens. Schon bei Solon finden sich dichterische, bei Platon und Aristoteles philosophische Gedanken über die Bedingungen einer gerechten und guten Ordnung der Polis, der „Eunomie“. An den mittelalterlichen Universitäten war das Nachdenken über Politik Anhängsel der praktischen Philosophie, bis sich in der frühen Neuzeit unter dem Eindruck der Reformation das Fach erweiterte und an Bedeutung gewann. Neben normativ-abstrakten Werken zur politischen Theorie entstand eine Vielzahl praktischer Untersuchungen, die dem Ziel dienten, den Fürsten Ratschläge etwa zur Vermeidung von Aufständen oder zur Geheimhaltung von Herrschaftswissen zu erteilen.

Ein Gespür für die Gegenwart

Als der Absolutismus blühte, profitierte dieser Teil der Politikwissenschaft besonders. Die Kameral- und Policeywissenschaften traten auf, um mit vergleichenden, statistischen und historischen Methoden zur Organisation des modernen Territorialstaates beizutragen. Nachdem die Aufklärer am Ende des 18. Jahrhunderts die Vielregiererei und den Utilitarismus der dazugehörigen Wissenschaften angeprangert hatten, verlor die Politikwissenschaft ihre überragende Bedeutung. Zuerst schmolz sie auf die bedeutende liberal-bürgerliche Verfassungslehre zusammen, bis sie zum Ende des 19. Jahrhunderts fast ausnahmslos aus den Universitäten verschwand.

Vorsichtige Neugründungsversuche gab es von liberal gesinnten Wissenschaftlern in der Weimarer Republik. Zu einem demokratischen Staat sollte auch eine demokratische Erziehung der politischen Elite gehören. Aus dieser Einsicht ging etwa die Deutsche Hochschule für Politik in Berlin hervor, bis sie unter den Nationalsozialisten als „Auslandswissenschaftliche Fakultät“ in die Berliner Universität integriert wurde. Nach dem zweiten Weltkrieg gelang der Neugründungsversuch dann endgültig: besonders die Amerikaner drangen im Rahmen der „Reeducation“ auf die Etablierung einer normativ anspruchsvollen „Demokratiewissenschaft“, wie das Fach offiziell hieß. Die Deutschen sollten demokratisiert werden – praktisch, institutionell aber auch geistig. Diesem Ziel verschrieb sich die Politikwissenschaft der ersten Jahre der Bundesrepublik.

Spätestens in den 1980er Jahren rückte das Fach von diesem Gründungsimpuls stückweise ab. Die Politikwissenschaftler verstanden sich immer mehr als  Vertreter einer „modernen Sozialwissenschaft“, die sich methodisch eher an den Naturwissenschaften orientierte als an philosophischen Traditionen des Fachs. Neben den Institutionen und Prozessen der Politik rückten vor allem einzelne Gebiete, wie etwa die Arbeitsmarkt-, Bildungs-, oder Gesundheitspolitik in den Mittelpunkt. Die Politikwissenschaft wurde dadurch professioneller, aber sie verlor ein Stück weit auch das Gespür für die kritische Beschäftigung mit der Gegenwart. Die Sicherung und Vermittlung demokratischen Denkens stand nicht mehr im Mittelpunkt der Bemühungen.

Gefahr der Hybridisierung

Der Politischen Theorie kam in dieser Lage die Aufgabe zu, die sich verstärkende empirisch-analytische Ausrichtung des Fachs auszugleichen, indem sie die Traditionsbestände politischen Denkens pflegt und zur Begriffsbildung beiträgt. Während sich weite Teile des Fachs spezialisierten, einzelne Segmente der Gesetzgebung untersuchten oder versuchten, das Wahlverhalten vorherzusagen, bemühte sich die Politische Theorie darum, nach den ideellen Grundlagen des Gemeinwesens zu fragen. Auf diese Art konnte sie auch die empirische Forschung inspirieren, indem sie etwa dazu aufforderte, die veränderten Bedingungen der Willensbildung in Zeiten von Massenmedien zu untersuchen. So gehörte es weitgehend zum Konsens der Vertreter des Fachs, dass die Politische Theorie einen legitimen und notwendigen Platz im Kanon der Politikwissenschaft einnimmt – sowohl in der Forschung als auch in der Lehre.

Doch diesen Konsens sehen einige inzwischen angegriffen. Franz Decker, Professor an der Universität Bonn, und der Extremismusforscher Eckhard Jesse beklagten etwa 2016 in dieser Zeitung eine „Amerikanisierung“ und „Versozialwissenschaftlichung“ des Fachs sowie die Dominanz quantitativ-statistischer Methoden. Politische Interaktionen würden nicht mehr „gedanklich-argumentativ rekonstruiert“, sondern „gemessen“ werden. Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie bemängelte anlässlich des Kongresses der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft im September 2018, dass die Politologie „vor lauter empiristischen Datenbäumen den Wald nicht mehr“ sehe. Der verstehende Blick auf die Probleme der Gegenwart, vom Populismus bis zur Zunahme autokratischer Regime, sei dabei auf der Strecke geblieben. Andere Wissenschaftler halten dagegen. Thomas König, Professor für Politikwissenschaft in Mannheim, wies die Vorwürfe als unhaltbar zurück. Eine Mehrheit der deutschen Politikwissenschaftler unterliege keinen Amerikanisierungstendenzen beschäftige sich durchaus mit gesellschaftlich relevanten Fragen.

Zumindest in der Forschung hat sich der Streit inzwischen wieder beruhigt. Viele Differenzen bleiben, aber sie werden für überbrückbar gehalten. „Es gibt beispielsweise eine enge Zusammenarbeit der Politischen Theorie und der Internationalen Beziehungen in Fragen der Legitimität im Staatensystem“, betont Rainer Schmalz-Bruns, Professor für Ideengeschichte und Theorien der Politik in Hannover. Wann können Völker legitimerweise einen eigenen Staat für sich beanspruchen? Worauf kommt es an, wenn sie von anderen Staaten akzeptiert werden wollen? Diese Fragen sind zum Beispiel im Hinblick auf die Situation der Kurden in der Türkei aktuell – und sie zeichnen sich dadurch aus, dass theoretische und empirische Erwägungen eng verflochten werden müssen. Auch wenn die Kooperationsbedingungen aufgrund des Publikationszwangs und der Abnahme des allgemein-ideengeschichtlichen Bildungshorizonts härter geworden seien, so Schmalz-Bruns, bemühe man sich gerade in Sonderforschungsbereichen und Exzellenzclustern um gegenseitigen Austausch. „Die Warnung vor einem methodologischem Schisma, wie es in der Soziologie zu beobachten ist“, sei für die Politikwissenschaft „überzogen“. Dort hatte sich jener Teil des Fachs abgespalten, der eher auf quantitative Forschung setzt und eine eigene Organisation, die Akademie für Soziologie, gegründet.

Wie sieht es nun in der politikwissenschaftlichen Lehre aus? Immer mehr Jugendliche drängen, auch unter dem Eindruck der politisierten Gegenwart, an die Universitäten, um sich einem Studium der Politikwissenschaft zu widmen. Ungefähr 1600 mehr Studenten des Fachs gab es 2018 im Vergleich zum Vorjahr – ein prozentual höherer Zuwachs als bei der deutschen Gesamtstudentenzahl. Wie reagiert die Lehre auf diesen Aufschwung?

 Jenseits der eigenen Scheuklappen

Die größere Nachfrage nach normativen und gegenwartsrelevanten Fragestellungen hallt im universitären Lehrbetrieb nur sehr bedingt wider. Nicht mal ein Fünftel aller politikwissenschaftlichen Professuren an deutschen Universitäten widmen sich Politischer Theorie oder Ideengeschichte. An der Universität Mannheim, die in deutschen Rankings regelmäßig als eine der besten im Bereich Politikwissenschaft abschneidet, existiert nicht mal ein Lehrstuhl für Politische Theorie. Hinzu kommt, dass nicht wenige Neubesetzungen an ehemals geisteswissenschaftlich ausgerichteten Lehrstühlen einer „Hybridisierung“ unterliegen, also mit anderen Teilbereichen der empirischen Politikwissenschaft vermischt werden. So trägt etwa der entsprechende Lehrstuhl an der Technischen Universität Dortmund den Namen „Politische Theorie und Internationale Beziehungen“ und an der Universität Konstanz „Policy-Analyse und politische Theorie“.

Die Bedeutungseinbußen der eher geisteswissenschaftlichen Traditionsbestände des Fachs haben auch institutionelle Ursachen: Seit den Bologna-Reformen haben sich die Universitäten vermehrt darauf konzentriert, auf zukünftige Berufe vorzubereiten und hierfür praktische Fähigkeiten wie den Umgang mit Statistikprogrammen zu vermitteln. „Die praktische Neuausrichtung der universitären Lehre trifft die Politische Theorie besonders“, beklagt Marcus Llanque, Professor für Politische Theorie in Augsburg. Für breite philosophische Diskussionen und ausführliche Lektüre von Klassikern bleibt immer weniger Platz, denn sie lassen sich nur bedingt in standardisierten Multiple-Choice-Klausuren abfragen. Außerdem, so Llaqnue, hätte die „Vermischung der Disziplinen in den Seminaren“ stark abgenommen. Früher hätte die Politische Theorie stärker davon profitiert, dass Politikwissenschaftsstudenten mit Philosophie-, Soziologie-, oder Geschichtsstudenten gemeinsam in vielen Lehrveranstaltungen gesessen hätten, weil sich die Themen überschnitten haben. Das sei heute kaum mehr der Fall.

Hinzu kommt, dass die Verkürzung des Abiturs und der Regelstudienzeit eine viel breitere Einführung in ideengeschichtliche Kontexte notwendig gemacht haben, um die Studenten überhaupt an die Teildisziplin der Politikwissenschaft heranzuführen. Gegenwärtig, so Professor Schmalz-Bruns, führe das „Zusammenschrumpfen der Zeit“ dazu, dass die anderen Teilgebiete, wie etwa Internationale Beziehungen oder Vergleichende Regierungslehre, den Studenten „leichter zugänglich“ erschienen, weil sie nur wenige Vorerfahrungen im Umgang mit geisteswissenschaftlichen und philosophischen Methoden und Begriffen gesammelt hätten.

Aber welche praktischen Probleme ergeben sich für die Studenten, wenn der Anteil der polittheoretischern Bildung in den Bachelor- und Mastercurricula weiter zurückgeht? Immerhin arbeitet ein Großteil von ihnen nach dem Studium für Ministerien, Nichtregierungsorganisationen, Parteien oder Beratungsunternehmen – wozu kann dort eine intime Kenntnis der politischen Philosophie Platons dienen? „Gerade in den heutigen Zeiten“, sagt Llanque, komme es darauf an, ein „theoretisches Interesse jenseits der eigenen Scheuklappen“ zu entwickeln. Wie filtern wir Informationen, wie kommen wir zu verlässlichem Wissen, welche Gefahr stellt das Aufkommen des Populismus für die republikanische Ordnung dar? In Zeiten von „Fake News“, der Manipulation von Debatten im Netz und einer grassierenden Unzufriedenheit mit demokratischen Institutionen sind diese Fragen hochaktuell – und nicht ohne ausführliche Begriffsarbeit zu beantworten. Noch so eine aktuelle Frage: Unter welchen institutionellen Bedingungen kann eine transnationale Demokratie wie die Europäische Union besser gelingen?

Um die drängenden Fragen der Gegenwart zu beantworten, scheint neben der Vermittlung empirischer Forschung auch eine ausführliche Neulektüre der Klassiker des politischen Denkens unabdingbar. So kann man etwa in der platonischen „Politeia“ eine Theorie der Demagogie finden, die erstaunlich nahe an der, kürzlich in der F.A.Z. veröffentlichten, Populismusanalyse des Politikwissenschaftlers Torben Lütjen liegt. Beide schildern plausibel, wie die Ablehnung jedweder Autorität und ein überzogener Geltungsanspruch zur Bedrohung für die Demokratie werden kann. Platon als dialektischer Theoretiker des Populismus?  – Darauf kann man nur kommen, wenn man ihn im Studium denn gelesen hat. Eine empirisch vereinseitigte Wissenschaft „macht sich unnötig dumm“, sagt Schmalz-Bruns. Diese Gefahr gilt auch für die Lehre, wenn sie die geisteswissenschaftliche Tradition des Fachs weiter in den Hintergrund rücken lässt.

Quelle: https://blogs.faz.net/blogseminar/platon-wohnt-hier-nicht-mehr/